Kapitel VI

[one-half][dropcap]W[/dropcap]ie oft hat mein Vater in seinen Erzählungen von diesem klaren und kühlen Herbstmorgen gesprochen, der Himmel dunkelblau und die Blätter der großen Bäume goldgelb, als er – zum ersten mal wieder in Zivilkleidung – in der Nähe des alten Braunschweiger Güterbahnhofs vor die Tür trat. Er hatte wundervoll geschlafen, zum ersten mal seit vielen Monaten wieder in einem Bett. Der Krieg war für ihn nun endgültig vorbei und die Freude darüber riesengroß, aber genauso groß die Sorge um das Schicksal der restlichen Familie.

Braunschweig! Aus dieser Stadt stammte Otto, sein Kamerad aus dem Lazarett. Hatte er den Krieg überlebt? Gab es das Haus noch in dem Otto einst gewohnt hatte? Mein Vater hatte seine Gastgeberin ein wenig gelöchert und herausgefunden, wo der kleine Ort nahe Braunschweig lag, von dem Otto ihm immer wieder erzählt hatte. Und so machte sich mein Vater auf den Weg, durch Trümmer und Ruinen, den einen oder anderen nach dem Weg fragend, einerseits fröhlich, andererseits in Sorge.

Es dauerte einige Stunden, bis er in diesem kleinen Ort nahe Braunschweig ankam. Auch hier musste er noch einige Leute fragen, doch Otto war hier kein Unbekannter und so erfuhr mein Vater, dass sein Kamerad noch am Leben war und wo er wohnte.

Und so stand an einem sonnigen Oktobernachmittag im Jahre 1945 mein Vater vor dem Haus, aus dem mein Großvater 18 Jahre zuvor ausgezogen war, weil es für die wachsende Familie zu klein geworden war. 1945 lebte dort der Cousin meines Großvaters und der hieß: Otto!

Mein Vater klopfte und eine Frau mittleren Alters öffnete ihm die Tür. Mein Vater nannte seinen Namen und wollte gerade zu einer ausführlichen Erklärung ansetzen, als ihn die Frau umarmte wie einen alten Freund und ihn ins Haus bat. Otto hatte viel aus der Zeit im Lazarett erzählt. Nach kurzer Zeit war mein Vater von Kindern umringt, bekam Muckefuck und Selbstgebackenen und dann ging die Tür auf und Otto betrat den Raum.

An diesem Tag wurde noch viel erzählt, selbst gebrannter Kartoffelschnapps getrunken und irgendwann schlief mein Vater auf dem Sofa ein.

Nach wenigen Tagen wurde klar, dass mein Vater zwar ein sehr gern gesehener Gast, aber in diesem Haus keinesfalls genug Platz war. Mein Vater zog sich also eine Jacke an, um auf Zimmersuche zu gehen und schaute nach draußen, als ein 17jähriges Mädchen mit langen dunklen Haaren am Haus vorbei ging. Otto sah sie und ließ die Bemerkung fallen, dass dies seine Nichte sei.[/one-half][one-half last]

Es sei mir verziehen, dass ich an dieser Stelle keinen großen Spannungsbogen aufbaue, wie sollte ich dieses auch tun? Fast jedem dürfte klar sein, dass es sich um meine Mutter handelte, aber bis dahin sollten noch knapp 20 Jahre vergehen.

Nach wenigen Tagen war ein Zimmer gefunden. Da sich mein Vater mit Radios auskannte, verdiente er ein wenig Geld, indem er alte Volksempfänger so umbaute, dass man damit AFN und BFBS, also die amerikanischen und englischen Militärsender empfangen konnte. Es ging ihm also eigentlich gut, aber die Sorge um seine Familie zehrte an ihm.

Ich will es kurz machen, denn es ist genug von schlimmen Schicksalen, von Krieg und Leid erzählt worden. Olmütz wurde Anfang 1945 von der roten Armee eingenommen, in ihrem Schlepptau tschechische Widerstandskämpfer. Während des Krieges war Gewalt, Hass und Grausamkeit von West nach Ost geschwappt. Jetzt schwappten diese Wellen zurück. Das Haus meiner Familie wurde enteignet, und meine Großmutter musste mit ihrer Mutter mit einem einzigen, winzigen Zimmer vorlieb nehmen. Gemälde, Teppiche, wunderschöne Einrichtungsgegenstände wurden gestohlen oder als Feuerholz verwendet. Auch die beiden Steinway-Flügel meiner Familie gingen in Flammen auf. Meine Urgroßmutter hatte noch im 19ten Jahrhundert begonnen Tagebuch zu führen. Es endet 1945 mit den Worten:

“Meine Familie – Bettler …”

Nur wenige Monate später starb meine Urgroßmutter mit knapp 97 Jahren. Das Tagebuch aber befindet sich heute in meinem Besitz. Dieser letzte handgeschriebene Satz, jedes hier von mir beschriebene Schicksal, kann nur zu einem Schluss führen:

Einen Krieg kann man nicht gewinnen. Es gibt immer viel mehr Verlierer als Gewinner. Wir können heute froh sein, dass Franzosen, Engländer, Tschechen und viele andere zu  unseren Freunden gehören. Nie wieder darf das aufs Spiel gesetzt werden, um nichts auf der Welt![/one-half]

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