Kapitel V
[one-half][dropcap]J[/dropcap]ahre später, im Sommer des Jahres 1949 bekam mein Großvater einen Brief. Oft hat er mir aus diesem vorgelesen, so wie aus anderen Briefen von Freunden und ehemaligen Kameraden.
Geht ein Krieg, eine Schlacht oder auch nur ein einzelner Angriff zu Ende, beginnt das Suchen. Man sucht Kameraden, Freunde oder Familienangehörige. An den Tagen nach dem 15. Oktober 1944 hatte meine Mutter verzweifelt nach ihrer Freundin gesucht. Erst drei Tage nach der Bombardierung erfuhr sie vom Verbleib der Familie, die den Angriff gut überstanden hatte.
In dem Brief aber hatte mein Großvater endlich Nachricht über den Verbleib eines Menschen bekommen, den er zwar nicht lange gekannt, dem er aber doch freundschaftlich verbunden war. Es war der Brief des Rosenzüchters, von dem mein Großvater viele Jahre zuvor eine Rose geschenkt bekommen hatte, zusätzlich zu einem kleinen Lohn für seine Arbeit.
Ich sehe heute noch die Schrift vor mir. Feine eng geschriebene und seltsam hohe Buchstaben, für mich damals nicht zu lesen. Die Buchstaben erinnerten teilweise an die Beine von Spinnen, so dünn und fein aber teilweise auch zittrig geschrieben waren sie.
Der Rosenzüchter beschrieb seine Reise nach Brandenburg zu seinem Bruder und wie sein Bruder noch kurz vor Kriegsende zum Volkssturm eingezogen worden war. Er hat seinen Bruder niemals wieder gesehen. Er beschrieb, wie er mit seiner Schwägerin, hochschwanger, vor der roten Armee nach Berlin flüchtete. Und er beschrieb, wie sie in den letzten Tagen des Krieges, als Berlin fiel, ihre Wehen bekam und von ihm in den Bunker einer Klinik gebracht worden war. Der Sohn[/one-half][one-half last] seines Bruders war schon geboren, als Rotarmisten in die Bunker eindrangen, auf der Suchen nach deutschen Soldaten.
Ein Krieg geht nicht einfach so zu Ende, Frieden bricht nicht einfach aus. Am Ende eines Krieges ist noch so viel Hass und Verbitterung übrig, dass es schon fast ein Wunder ist, dass das Morden irgendwann ein Ende hat.
Die ersten amerikanischen Soldaten waren schon in Sicht, als mein Großvater seine Freunde und Kameraden zusammenrief. Viele von Ihnen hatten unter dem NS-Regime zu leiden gehabt, denn es waren allesamt Mitglieder der SPD und Gewerkschafter. Mein Großvater versuchte alles, um seine ehemaligen Genossen davon abzuhalten, Rache an den örtlichen Nazi-Größen zu nehmen. Die Versammlung war noch nicht zu Ende, als die Nachricht kam, dass man den Bürgermeister zu Tode geprügelt hatte.
Im Mai 1945 endete der Krieg in Europa. Viele Menschen standen vor den Trümmern ihrer Existenz, waren verletzt, krank und hungrig. Aber es war endlich Frieden und so krempelten die Menschen ihre Ärmel hoch und begannen Stück für Stück und Stein für Stein wieder aufzubauen, was zerstört war.
Mein Großvater reparierte das Dach und setzte neue Fenster ein. Flaksplitter wurden aus Beeten geharkt und die wenigen Samen oder Pflanzen, die man bekommen konnte, in den Boden gebracht. Sogar unser Nachbarhaus wurde repariert, es steht heute noch.
Im Herbst kam ein unrasierter Soldat mit einem Gefangenentransport in Braunschweig an. Er flüchtete und klopfte an der ersten Tür, die er finden konnte. Eine ältere Frau öffnete ihm. Sie bekam Mitleid mit meinem Vater, vielleicht auch, weil sie im Krieg Sohn und Mann verloren hatte. Nachdem mein Vater sich gewaschen und Zivilkleidung bekommen hatte, führte ihn die Frau in eine kleine Schlafkammer. Zum ersten Mal seit langer Zeit lag mein Vater wieder in einem richtigen Bett und weinte vor Glück, während er einschlief.
Der Rosenzüchter jedoch machte sich mit seiner Schwägerin auf den Rückweg nach Brandenburg und war fortan Onkel und Vater zugleich. Er schaffte es sogar, wieder einige Rosen zu züchten und beschrieb in seinen Briefen, wie schwer die Zeiten waren. Der Briefwechsel zwischen ihm und meinem Großvater endete 1961 mit dem Bau der Mauer.[/one-half]